
Sanktionen und das Bundesverfassungsgericht: Was gilt nach dem Urteil?
Das Bundesverfassungsgericht hat 2019 ein wegweisendes Urteil zu Sanktionen bei Hartz IV gefällt. Das Urteil gilt auch für die Neue Grundsicherung 2026 und schützt vor unverhältnismäßigen Kürzungen. Dieser Ratgeber erklärt das Urteil, seine Auswirkungen und wie Sie sich gegen Sanktionen wehren können.
Das Wichtigste in Kürze
Das BVerfG-Urteil auf einen Blick:
- Sanktionen über 30% sind verfassungswidrig
- 60% und 100% Kürzungen wurden für unverhältnismäßig erklärt
- Das Existenzminimum darf nicht vollständig entzogen werden
- Härtefallregelung ist erforderlich
- Auch die Neue Grundsicherung 2026 muss sich daran halten
Das BVerfG-Urteil von 2019
Ausgangslage
Am 5. November 2019 entschied das Bundesverfassungsgericht (Az. 1 BvL 7/16) über die Verfassungsmäßigkeit von Sanktionen im SGB II.
Gegenstand des Urteils:
- Sanktionen bei wiederholten Pflichtverletzungen
- Kürzungen von 60% und 100% des Regelbedarfs
- Verhältnismäßigkeit von Leistungskürzungen
Die Kernaussagen des Urteils
| Aussage | Bedeutung |
|---|---|
| Existenzminimum ist Menschenwürde | Der Staat muss das Minimum zum Leben garantieren |
| Sanktionen sind grundsätzlich erlaubt | Aber nur unter Beachtung der Verhältnismäßigkeit |
| 30% Kürzung ist maximal zulässig | Ohne Härtefallprüfung |
| 60-100% sind unverhältnismäßig | Verletzen das Existenzminimum |
| Unterkunftskosten dürfen nicht gekürzt werden | Obdachlosigkeit ist zu vermeiden |
Wörtlich aus dem Urteil
"Die Menschenwürde darf nicht relativ sein; sie muss auch dem zukommen, der sie - nach Meinung der Mehrheit - durch sein Verhalten verletzt."
Bundesverfassungsgericht, 5. November 2019
Was bedeutet das für die Praxis?
Zulässige vs. unzulässige Sanktionen
| Sanktion | Zulässig? | Begründung |
|---|---|---|
| 10% Kürzung | ✅ Ja | Verhältnismäßig |
| 30% Kürzung | ✅ Ja | Maximal ohne Härtefallprüfung |
| 60% Kürzung | ⚠️ Nur mit Härtefallprüfung | BVerfG fordert Einzelfallprüfung |
| 100% Kürzung | ❌ Nein | Verstößt gegen Existenzminimum |
Die Härtefallregelung
Bei Sanktionen über 30% muss das Jobcenter prüfen:
- Individuelle Umstände: Gesundheit, Familie, Wohnsituation
- Alternativen zur Sanktion: Weniger einschneidende Maßnahmen
- Konkrete Auswirkungen: Droht Obdachlosigkeit, Hunger?
Wichtig: Die Beweislast liegt beim Jobcenter! Es muss nachweisen, dass die Sanktion verhältnismäßig ist.
Sanktionen bei der Neuen Grundsicherung 2026
Was plant die Bundesregierung?
Die Neue Grundsicherung 2026 sieht verschärfte Sanktionen vor - aber innerhalb der BVerfG-Grenzen:
| Verstoß | Sanktion (geplant 2026) | BVerfG-konform? |
|---|---|---|
| 1. Terminversäumnis | 30% für 1 Monat | ✅ Ja |
| Wiederholtes Versäumnis | 30% für 2 Monate | ✅ Ja |
| Verweigerung zumutbarer Arbeit | 30% für 3 Monate | ✅ Ja |
| Wiederholte Verweigerung | Bis 100%* | ⚠️ Nur mit Härtefallprüfung |
*Bei wiederholter Totalverweigerung kann theoretisch bis zu 100% gekürzt werden, aber nur nach eingehender Einzelfallprüfung und mit Sachleistungen.
Vergleich: Bürgergeld vs. Neue Grundsicherung
| Aspekt | Bürgergeld (bis 2025) | Neue Grundsicherung (ab 2026) |
|---|---|---|
| 1. Versäumnis | 10% | 30% |
| Maximum ohne Härtefall | 30% | 30% |
| Dauer 1. Sanktion | 1 Monat | 1 Monat |
| Härtefallprüfung | Erforderlich über 30% | Erforderlich über 30% |
Für die detaillierten Sanktionsregeln beim Bürgergeld bis Ende 2025 siehe Bürgergeld-Hilfe: Sanktionen und Leistungskürzungen.
Was bleibt gleich?
Das BVerfG-Urteil gilt weiterhin:
- Keine vollständige Streichung ohne Härtefallprüfung
- Kosten der Unterkunft dürfen nicht vollständig gestrichen werden
- Sachleistungen müssen bei hohen Sanktionen angeboten werden
- Widerspruchsrecht bleibt bestehen
So wehren Sie sich gegen Sanktionen
1. Widerspruch einlegen
Frist: 1 Monat nach Zustellung des Sanktionsbescheids
Form: Schriftlich (Einwurf-Einschreiben empfohlen)
Muster-Formulierung:
"Gegen den Sanktionsbescheid vom [Datum], Aktenzeichen [Az.], lege ich hiermit Widerspruch ein. Eine ausführliche Begründung reiche ich nach. Ich beantrage die Aussetzung der Vollziehung."
2. Begründung des Widerspruchs
Prüfen Sie folgende Punkte:
| Prüfpunkt | Relevanz |
|---|---|
| Liegt eine Pflichtverletzung vor? | Tatsächlicher Verstoß? |
| War der Termin zumutbar? | Krankheit, Kinderbetreuung? |
| Wurde Belehrung erteilt? | Über Rechtsfolgen informiert? |
| Ist die Sanktionshöhe korrekt? | 30% vom Regelsatz? |
| Wurde Härtefallprüfung durchgeführt? | Besonders bei hohen Sanktionen |
3. Eilrechtsschutz beantragen
Bei drohender Notlage:
Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz beim Sozialgericht:
- Vorläufige Weiterzahlung der Leistungen
- Schnelle Entscheidung (Tage bis wenige Wochen)
- Kostenfrei für Sie
4. Klage erheben
Nach abgelehntem Widerspruch:
- Frist: 1 Monat nach Widerspruchsbescheid
- Zuständig: Sozialgericht
- Kosten: Für Sie kostenfrei
Wichtige Urteile nach dem BVerfG-Beschluss
Ausgewählte Sozialgerichtsurteile
| Gericht | Aktenzeichen | Kernaussage |
|---|---|---|
| LSG NRW | L 7 AS 1628/19 | 30% bei erstmaligem Meldeversäumnis zu hoch |
| SG Berlin | S 174 AS 1001/20 | Sachleistungen müssen aktiv angeboten werden |
| BSG | B 4 AS 89/19 R | Härtefallprüfung muss dokumentiert werden |
Tendenz der Rechtsprechung
Die Sozialgerichte wenden das BVerfG-Urteil streng an:
- Großzügige Auslegung zugunsten der Betroffenen
- Hohe Anforderungen an die Härtefallprüfung
- Kritische Prüfung der Verhältnismäßigkeit
Wann sind Sanktionen gerechtfertigt?
Zumutbare Pflichten
| Pflicht | Sanktionierbar? |
|---|---|
| Meldetermine wahrnehmen | ✅ Ja |
| Zumutbare Arbeit annehmen | ✅ Ja |
| Eingliederungsmaßnahmen | ✅ Ja |
| Bewerbungen nachweisen | ✅ Ja |
| Arbeit in sittenwidrigen Bedingungen | ❌ Nein |
| Arbeit unter Mindestlohn | ❌ Nein |
| Unzumutbare Arbeit (Gesundheit) | ❌ Nein |
Wichtiger Grund als Schutz
Sanktionen sind nicht zulässig, wenn ein wichtiger Grund vorliegt:
- Krankheit (mit Attest)
- Kinderbetreuung nicht gesichert
- Pflege von Angehörigen
- Unzumutbarkeit der Arbeit
- Fehlende Erreichbarkeit (kein ÖPNV)
Häufige Fragen
Darf das Jobcenter meine Leistungen komplett streichen?
Nein, eine vollständige Streichung (100%) ist nach dem BVerfG-Urteil nur in extremen Ausnahmefällen und nur mit Sachleistungen (Lebensmittelgutscheine, direkte Mietzahlung) zulässig. Ohne Härtefallprüfung sind maximal 30% Kürzung erlaubt.
Wie hoch darf eine Sanktion maximal sein?
Ohne besondere Härtefallprüfung maximal 30% des Regelbedarfs. Bei Stufe 1 (563 €) sind das ca. 169 €. Die Kosten der Unterkunft dürfen nicht vollständig gestrichen werden, um Obdachlosigkeit zu verhindern.
Was bedeutet das BVerfG-Urteil für die Neue Grundsicherung 2026?
Das Urteil bindet auch den Gesetzgeber. Die strengeren Sanktionen der Neuen Grundsicherung müssen sich an die Grenzen halten: maximal 30% ohne Härtefallprüfung, keine vollständige Streichung ohne Sachleistungen. Das Existenzminimum muss gewahrt bleiben.
Kann ich gegen eine Sanktion klagen?
Ja, Sie können Widerspruch einlegen (1 Monat Frist) und bei Ablehnung Klage beim Sozialgericht erheben (kostenfrei). Bei drohender Notlage gibt es auch Eilrechtsschutz, der schnell entschieden wird.
Was ist eine Härtefallprüfung?
Bei Sanktionen über 30% muss das Jobcenter prüfen, ob die Kürzung im Einzelfall verhältnismäßig ist. Dabei werden Ihre persönlichen Umstände berücksichtigt: Gesundheit, Familie, Wohnsituation, drohende Obdachlosigkeit. Das Jobcenter muss diese Prüfung dokumentieren.
Werden die Kosten der Unterkunft auch gekürzt?
Die KdU dürfen nicht vollständig gestrichen werden, da sonst Obdachlosigkeit droht. Das BVerfG hat klargestellt, dass dies mit der Menschenwürde unvereinbar ist. Bei Sanktionen wird primär der Regelsatz gekürzt.
Fazit
Das BVerfG-Urteil von 2019 schützt vor unverhältnismäßigen Sanktionen. Auch die Neue Grundsicherung 2026 muss diese Grenzen beachten: Maximal 30% ohne Härtefallprüfung, keine vollständige Streichung des Existenzminimums.
Ihre Rechte:
- Widerspruch innerhalb eines Monats
- Klage beim Sozialgericht (kostenfrei)
- Eilrechtsschutz bei drohender Notlage
- Härtefallprüfung bei hohen Sanktionen einfordern
Weiterführende Informationen
- Sanktionen bei der Neuen Grundsicherung 2026
- Neue Grundsicherung 2026: Alle Änderungen
- Allegro-System: Warum dauert die Bearbeitung?
- Beratungsstellen finden
Quellen
- Bundesverfassungsgericht: Urteil vom 5. November 2019, 1 BvL 7/16
- Bundessozialgericht: Aktuelle Rechtsprechung
- Deutsches Institut für Menschenrechte: Menschenrechtliche Bewertung
Hinweis: Alle Angaben ohne Gewähr. Stand: Dezember 2025
Rechtlicher Hinweis: Die Informationen ersetzen keine Rechtsberatung. Bei Sanktionen empfehlen wir, zeitnah rechtliche Beratung zu suchen – nutzen Sie die Beratungshilfe oder Sozialberatungsstellen.